Wer hat diesen Satz nicht schon mindestens einmal gehört? Ob von Omi, die von der Vergangenheit schwärmend mit verklärtem Blick und den Stricknadeln in der Hand auf ihrem Fernsehsessel aus der Kreidezeit sitzt und nebenher der Tagesschau in ersten deutschen Fernsehen lauscht oder auch von Muttern, die kopfschüttelnd das Zimmer des Sohnemanns verlässt, der seit 3 Tagen vor seinem Rechner sitzt. "Früher war alles besser!". Ein oft zitierter und von vielen auch so gemeinter Satz.
Beleuchten wir das doch mal.
"Früher" ist ein dehnbarer Begriff, es kommt also auch und vor Allem darauf an, welche Zeit denn mit "früher" gemeint ist. Die Zeit, in der "Twix" noch "Raider" hiess? Die Zeit in der sich die Jungs aus der Nachbarschaft alle Bonanza-Räder zu Weihnachten wünschten und die Mädchen alle ihren Mon-Chichi knuddelten? Oder meint Oma die Zeit, in der Weihnachten noch ein Familienfest war, bei dem alle Familienmitglieder im Wohnzimmer sassen und Radio hörten?
Schwer zu sagen. Ich glaube, dass "früher" vieles einfacher war. Und zwar nicht im Sinne von "leichter" sondern man führte grundlegend ein etwas einfacheres Leben. Ohne viel Technik (die konnten sich damals eh nur Gutbetuchte leisten), ohne das Internet, ohne Cybermobbing, ohne Facebook und den ständigen Stress, seinen Status aktuell zu halten und mit nur drei Fernsehsendern, bei denen man Sonntags die Wahl hatte zwischen einem Gottesdienst, dem 4stündigen Klassik-Konzert der 4 grenzdebilen Tenöre oder einer Dokumentation über einen zweiköpfigen Jungen in Simbabwe, dem ein dritter Arm aus dem linken Fuss wächst. Nein, es war nicht alles schlecht damals. Es war aber auch nicht alles "besser". Ich glaube viele Dinge der damaligen Zeit waren gut, aber eben nicht unbedingt besser.
Lasst uns doch in dieser Hinsicht mal einen Blick auf die Technik werfen, die uns hier vornehmlich beschäftigt, nämlich die Webentwicklung. Das Internet in der heutigen Form, offen für Alle, kostengünstig und rasend schnell, war vor ca 20 Jahren noch ein wagemutiger Traum und es gab unzählige Pioniere, die die damalige Technik immer wieder bis an ihre Grenzen brachten und damit schlussendlich weiterentwickelten.
Als ich meine ersten Webseiten "erschuf", ich glaube es war so um 1994 oder 1995 rum, war reines HTML die Hauptkomponente jeder Webseite (ich weiss, das ist auch heute noch so, allerdings waren damilge Webseiten einzig auf HTML beschränkt... kaum noch vorstellbar oder?). Editoren wie das damals völlig überteuerte "Frontpage", das es entweder als Standalone oder in grösseren Bundles auch als Teil des Officepakets von Microsoft zu kaufen gab, NetObjects Fusion oder später auch Dreamweaver nahmen uns viel Arbeit ab - vermeintlich jedenfalls, denn spätestens wenn man allein sschon durch die Praxis anfing, HTML wirklich zu lernen (und zu verstehen) erkannte man, welchen Murks diese Editoren zu grossen Teilen fabrizierten. Nach einer Weile zählte man sich selbst zu den "Cracks", verhöhnte die damals so liebgewonnenen Editoren und prahlte damit, seine Webseiten ausschliesslich mit dem Windows-Editor zu schreiben. Viele von uns wollten und konnten auch damals nicht zugeben, dass zumindest Teile der Webseite (am meisten verschachtelete Tabellen, denn die waren zum Teil echt kompliziert!) mit einem dieser Editoren erstellt wurden und wir entfernten die entsprechenden META-Tags im Headbereich um uns keine Blösse zu geben. Wow waren wir gut!
Webseiten der damaligen Zeit bestanden immer aus den gleichen, sich wiederholenden Codes, das hat sich im Grunde auch bis heute nicht geändert, denn Gutes etabliert sich eben. Auch heute noch bestehen Webseiten im Kern aus dem "HEAD"- und dem "BODY" bereich - nur damals füllten wir unsere Webseiten mit Dingen, die heute kein Mensch mehr braucht. Ich erinnere mich z.B. an eine Webseite, die den wohlklingenden Namen "Gerd ist jetzt auch im Web!" trug. Auf dieser Webseite fand man Gerd himself, seine ihm angetraute Olle, den Hofhund, zwei Kinder und die Schildkröte "Daggie" . alles schön verpackt in Regenbogenfarben und Farbverläufen soweit das Auge reichte. Das Familienleben von Gerd gestaltete sich zugegebenermassen nicht wirkllich spektakulär und neue Bilder kamen auch nur alle Jubeljahre mal, aber Gerd war im Internet und das war die Hauptsache.
Vielen von uns ging es so. Ob Präsentation des eigenen Hobbys, Fotos von irgendwelchen Hinterhofpartys, das neue BMX-Rad oder anstössige Bilder der Nachbarin. ALLES musste ins Internet und der Öffentlilchkeit zugänglich gemacht werden.
Mit den schon genannten Editoren und ähnlichen Programmen war das im Grunde auch garkein Problem. Um validen HTML-Code kümmerte man sich damals nicht wirklich und als Konkurrenz für den damals etablierten Internetexplorer ist höchstens noch "Netscape" zu nennen - und wer den benutzte war eben selbst Schuld wenn Webseiten garnicht oder falsch angezeigt wurden. Irgendwann wurde CSS dann salonfähig und man fing an, Styledefinitionen vom ursprünglichen HTML zu trennen. Das war eine Zeit, in der viele damalige "Webdesigner" so langsam aber sicher an ihre Grenzen stiessen, auch wenn die Editoren in der moderneren Version eigene Editoren mitbrachten, die nur für den CSS-Kram geschrieben wurden.
Eine der ersten Webseiten, die ich mir damals anschaute und die regen Gebrauch von CSS machte, war die Webseite einer Kirchengemeinde in irgendeinem Kaff, das man vermutlich auf der Landkarte vergeblich sucht. Hauptsächlich wurde hier CSS eingesetzt, um Farbverläufe zu gestalten, die bunter nicht hätten sein können. Die eigentliche Sensation daran aber war, dass diese Farbverläufe auch noch scrollten - ja sie bewegten sich! Gut, man durfte diese Webseite nicht länger als 2 Minuten betrachten ohne Gefahr zu laufen, fortan als hypnotisierter, willenloser Zombie die Nachbarschaft unsicher zu machen und die vermeintlich wichtigen Texte der "Jungen Kirchengemeinde" erschienen auch nicht wirklich lesenswert, ganz zu schweigen von den Bildern der grenzdebilen Belegschaft - aber immerhin hatte man es geschafft, eine zumindest technisch gesehen "moderne" Webseite ins Netz zu stellen. Ich denke oft mit ein wenig Wehmut an diese Zeit zurück, denn Webdesigner zu sein war damals wirklich "einfacher". Wer es wirklich drauf hatte baute eine vollständige Webseite an nur einem verregneten Nachmittag. Nur die "Cracks" der Szene verbrachten Nächte und ganze Wochenenden vor dem Rechner, beschäftigt mit der Lösung eines sich selbst gestellten Problems - und das immer wieder und mit wachsender Begeisterung.
Neue Browser hielten Einzug auf den heimischen Rechner und wir Webdesigner (das war damals noch ein Synonym für Fachleute!) beschäftigten uns fortan hauptsächlich damit, Webseiten für alle verfügbaren Browser fehlerfrei ins Internet zu stellen. Wir machten Abstriche, fuchsten uns in immer komplexer werdende Problemstellungen, versuchten Lösungen zu finden für die wachsenden Ansprüche unserer Auftraggeber. Man, das war eine tolle Zeit!
Innovationen, frische Ideen, interaktive und mediale Inhalte... mit immer mehr Möglichkeiten wuchsen auch die Webseiten - und mit wachsenden Webseiten und medialen Inhalten wurde auch der Ruf nach immer schnelleren Internetanschlüssen laut. Heute kaum noch vorstellbar, sich mit einem 33.6k-Modem ins Internet einzuwählen... mit diesem Geräusch, das bei mir auch heute noch Gänsehaut auslöst.
Nein, früher war nicht alles besser... aber es war eine geile Zeit!
Zitat
Jetzt weiss ich auch, wie du so geworden bist, wie du bist :YAHOO:
Damals war schon eine geile Zeit, das beziehe ich nun mal auf die 90iger.
Wenn man Sich anschaut, wie sich die Technik nicht mal in einen Jahrzehnt entwickelt hat, kann man sich nur noch fragen, wo stehen wir in 10 Jahren. Haben wir einen PC im Kopf gepflanzt und der Monitor sind die Augen ? Jeder Blick auf einen Menschen öffnet sein Facebookprofil und auch ggf. die Webseite ?
In der hinsicht wie die Technik vorran geht, kann man Angst auch bekommen.
Aber Technik hin oder her, wenn ich mir anschaue, wie wir noch gespielt haben im Alter von 6 - 12 Jahren, bekommt man jetzt das grauen. Wir haben noch verstecken ohne App gespielt oder einfach im Sandkasten gesessen und Städte gebaut den ganzen Tag und danach mit Autos drin rumgefahren. Heute: SimCity und co. am PC.
Was sich nicht geändert hat, sobald die Pubatät einsetzte wollten wir nur noch eins, eine Freundin haben und naja ihr wisst schon.
Manches vermisse ich einfach, anderes macht einen traurig jetzt und wieder anderes macht auch freude.
Frontpage... ja, das kenne ich auch noch. Mit der versuchte ich auch mal eine Seite zu erstellen - völliger Mist war das am Ende.
@ Tunes: Das mit dem Blick auf andere wo sich dem seine FB-Seite öffnet, das gibt es doch schon --> Google Glass.
Und was heute anders ist in der Pubertät; die "Jungs" und "Mädels" gucken dann halt Pornos bis sie endlich "ran" dürfen :D
Ich muss sagen, dass der Druck der auf einem Menschen lastet heute irgendwie durch die Möglichkeit der schnelleren Erreichbarkeit viel höher ist. Es wird erwartet, dass die zu erledigenden Arbeiten direkt cloud-gerecht gemacht werden, so dass Andere live sehen, WAS du machst und am Besten auch gleich WIE du das machst. Und genau das baut Druck auf. Früher ging es technisch für die breite Masse eben nicht und somit konnte sich die Spezies "Coder" auch mal einen ruhigen Gang einlegen ohne "Überwachung" dessen Arbeit. Die Resultate waren halt dann da wenn sie da waren und man machte Feierabend mit einem ganz anderen Gefühl... "Wenn es jetzt nicht geht, erfahre ich es erst morgen anstatt gleich via Handy, Skype, WA, ICQ, o.Ä. und werde nach Feierabend nicht mehr belästigt".
Selbst im nicht-IT-Bereich, sprich in meinem direkten Beruf den ich ausübe habe ich es oftmals erlebt, dass ich nach Feierabend von der Nachtschicht angerufen wurde und gefragt wurde, wie XY nun gemeint ist.
Und genau da kann ich nur sagen - ich vermisse diese "alte" Zeit, wo man wirklich seine Ruhe hatte und nicht alle "Apps" deaktivieren muss, um ja nicht angelabert zu werden von dem grenzÜBERSCHREITENDEN Debilen aus der Firma :D
Nun ich sage mal es war anders aber nicht unbedingt besser, denn allgemein neigt der Mensch ja dazu vergangenes zu verklären und sich nur an gute zu erinnern. Und das was dann eher nicht so gut war wird dann eben zum guten weil wir insgeheim doch Spass daran haben uns über dinge zu ärgern :)